Das Künstlerdasein: Identität, Berufung, Bürde

Artista | Maria Chiariello

13. Mai 2024

Künstler leben nicht von der Kunst, sondern für die Kunst.“ – Markus Lüpertz (dt. Maler)

Ich weiß nicht, mit wie vielen Menschen ich in meinem Leben schon über Kunst philosophiert habe, wie viele verschiedene Künstlerinnen und Künstler ich schon kennengelernt und gesprochen habe und wie oft mir dabei immer wieder eine Sache aufgefallen ist: Es gibt keinen „typischen Künstler“. 

Es gibt nicht die eine Sache, die darüber entscheidet, ob man Künstler*in ist oder nicht. Für Außenstehende mag die Sache klar sein: XY malt Bilder → Künstler.*in Aber so leicht ist das nicht. Verschiedenste Künstler*innen werden dir immer eine individuelle Antwort darauf geben, was es für sie bedeutet Künstler*innen zu sein.

Es gibt Künstler*innen, welche sich (noch) nicht zutrauen sich selbst als Künstler*in zu bezeichnen, obwohl sie schon sehr lange Kunst kreieren. Es erfordert Mut, sich selbst, als Künstler*in anzuerkennen und hat viel mit Identifikation und Selbstakzeptanz zu tun. 

Daher folgt an dieser Stelle meine persönliche Betrachtungsweise und das, was das Künstlerdasein für mich bedeutet. 

Kunst ist eine Lebensentscheidung

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Kunst eine (Lebens-) Entscheidung ist. Es ist ein Weg, den man geht. Du bist nicht auf einmal Künstler*in, nur weil du gerne Kunst machst. Ab dem Moment an dem du beginnst aktiv Kunst zu machen, befindest du dich auf deiner künstlerischen Reise. Langsam und sukzessiv näherst du dich damit immer mehr deiner Identifikation als Künstler*in an. Manch einer braucht länger dafür als ein anderer. Die künstlerische Reise ist immer eine Reise zu sich selbst. Künstler*in zu sein ist ein stetiger Prozess, der über das Machen von Kunst hinaus geht. Es ist die Auseinandersetzung mit sich selbst, welche in Rückkopplung mit der eigenen Kunst passiert. Für Außenstehende ist das oft nicht wirklich nachvollziehbar.

Kurioserweise fällt diese unfassbar wichtige Tatsache in der externen Betrachtung von Kunst komplett unter den Tisch. Von außen ist es leicht, jemandem den Stempel „Künstler*in“ aufzudrücken oder darüber zu urteilen, ob dies oder jenes nun Kunst sei oder nicht.

Das wird der Sache aber in keinster Weise gerecht. Die meisten Menschen haben keine Vorstellung davon, was es bedeutet, Künstler*in zu sein. Sie sehen Produkte in Form von künstlerischen Werken und beurteilen diese anhand der eigenen Befindlichkeiten und ästhetischen Maßstäbe. Dabei betrachten sie die Kunst immer aus ihrem eigenen Kontext heraus. Und dieser hat häufig wenig mit der Perspektive der Künstlerin oder des Künstlers zu tun. 

Meta-Ebenen in der Kunst

Kunst ist nicht nur ein Endprodukt, sondern besteht in seiner Gänze aus verschiedenen Meta-Ebenen. Wenn du die Welt eines Künstlers wirklich verstehen möchtest, dann musst du dich damit beschäftigen und hinter die Fassade blicken. Ein Kunstwerk ist häufig wie ein codiertes, geheimnisvolles Buch, in dem sich eine Geschichte verbirgt. Wenn du nur auf den Einband schaust, dann wirst du das Geheimnis nie lüften. Sicher gibt es vereinzelt Künstler*innen, die dir ihr Geheimnis gleich ins Gesicht schreien, da fällt es leichter, die Geschichte zu verstehen. Doch die meisten Künstler*innen sind gut darin, ihre Geschichte zu verschleiern. Und nur wer genau hinschaut und sich darauf einlässt, der wird in der Lage sein, die Botschaft zu entschlüsseln. 

In einer Welt in der profane, unterhaltsame 15 sek. Videos ohne jeglichen Anspruch die Norm sind, ist es natürlich anstrengend, wenn man sich in ein Bild, ein Musikstück oder eine Performance erst hineindenken muss. Kunst ist keine seichte Unterhaltung und sollte auch nicht mit solcher verwechselt werden. 

Manche Kunstwerke kosten Künstler*innen Jahre an Schöpfungskraft. Hinter jedem Werk, welches irgendwann einmal Aufmerksamkeit generiert, stehen häufig hunderte unbekannte Werke, die dem vorangegangen sind. Und nicht zu vergessen die vielen, vielen Werke, die im vorne herein aussortiert und für nicht gut genug befunden wurden. Jede Künstlerin und jeder Künstler ist auch Kurator*in und Kritiker*in seiner eigenen Arbeit. Und diese Fertigkeiten müssen über die Zeit trainiert und perfektioniert werden. Irgendwann siehst du einfach, ob du gut oder noch nicht so weit bist.

Wenn du Künstler*in bist, dann streifst du dir das Label nicht einfach über, wenn du dich an die Leinwand stellst, das Instrument in die Hand nimmst oder die Bühne betrittst. Wenn dem so ist, dann zeigt das, dass du Kunst zu Unterhaltungszwecken oder hobbymäßig machst. Auch das ist in Ordnung. Vielleicht bist du einfach noch nicht so weit oder wirst/willst es auch nicht professionalisieren. 

Aber: echte Künstler*innen sind immer Künstler*innen, auch wenn sie gerade keine Kunst machen. Denn so jemand wird jeden Augenblick des Tages künstlerisch betrachten, verarbeiten und schlussendlich in seine Kunst einfließen lassen. 

Künstler*innen nutzten die Kunst, um uns seine Geschichte zu erzählen – und diese stammt aus ihrem Leben. Folglich ist die Kunst in gewisser Art und Weise immer irgendwie unterbewusst präsent. 

Deshalb nutze ich z.B. regelmäßig den Satz „ich denke künstlerisch“, ich kann gar nicht anders denken. Egal was ich in meinem Leben tue oder erlebe, ich betrachte es immer auch aus künstlerischer Perspektive. Die Kunst definiert mich und macht mich aus.

Es gibt Studien, die belegen, dass bei künstlerischen und kreativen Menschen die rechte Seite des Gehirns aktiver und stärker ausgeprägt ist. Es ist also empirisch messbar, dass Künstler „anders“ denken. 

Leid und Schmerz

Die Welt als Künstler*in zu erfahren, bringt aber nicht nur Vorteile mit sich. Künstler*innen sind häufig empathische, nachdenkliche Menschen. Sie leiden unter strukturellen, gesellschaftlichen Standards. Eine hohe Reflexionsfähigkeit und Auffassungsgabe bringt mit sich, dass man überall Probleme und Krisenherde sieht, einfach weil sie einem auffallen. Es gibt viele Dinge, die Künstler*innen frustrieren. Die Kunst dient Künstler*innen daher häufig als Kommunikationskanal und als Ventil für das Erfahrene.

Wenn Außenstehende das verstehen und die Kunst bei ihnen ankommt, dann ist das toll für diese Künstler*innen. Aber es gibt so viel Kunst, die keinerlei Beachtung findet und letztlich niemanden wirklich erreicht. Als Künstler*in fängst du grundsätzlich so an. Es ist die Norm, dass sich erstmal keiner für deine Kunst interessiert und du quasi ins Leere kommunizierst. Und es gibt kein Garant, dass sich dies irgendwann ändern wird. Vielleicht wirst du nie so erfolgreich werden, wie deine künstlerischen Vorbilder. Du bist also stetig mit deinem „Scheitern“ konfrontiert. Das kann eine ganz schöne Bewährungsprobe sein – vor allem, wenn du Ziele in deinem Leben hast und ein Lebensmodell anstrebt, in dem Erfolg eben eine Rolle spielt.

Existenzangst 

Der „Weg des Künstlers“ verläuft selten geradlinig. Nicht immer sind vorteilhafte Lebensumstände vorhanden. Nicht jeder genießt das Privileg, seine Kunst ungeachtet von Geldsorgen ausüben zu können. Für viele Künstler*innen gehören Entbehrungen und finanzielle Engpässe zum Künstlersein dazu. Die Liebe zur Kunst bedeutet, sich für die Sache aufzuopfern und mit den Konsequenzen zu leben. 

Hier trennt sich häufig Spreu von Weizen. Nicht jeder ist bereit, seine Sicherheiten aufs Spiel zu setzen, um sich ins risikoreiche Künstlerleben zu stürzen. Ja, viele wünschen sich Kunst zu machen und langfristig von ihrer Kunst leben zu können, scheitern aber womöglich an der Realität. Für jene ist es dann eine kurze Episode in die Welt des Künstlerdaseins. Sich mit Kunst etwas aufzubauen, kann schwerer sein, als gedacht.

Das „Warum?“ (Berufung)

Aus neoliberaler-kapitalistischer Sicht (und so funktioniert unsere Welt nun mal) macht ein bescheidenes Künstlerleben keinerlei Sinn. Was ich hierbei vermisse, ist allerdings jegliche menschliche Betrachtungsweise, welche sich die fundamentale Frage stellt: wieso bin ich eigentlich auf dieser Welt und was will ich mit meiner Zeit hier anfangen? Wenn Geld indessen keinerlei Rolle spiele, wie würden dann die Antworten ausfallen?

Ich finde es grausam, dass Geld in unserem Leben einen so großen Stellenwert einnimmt und einfach alles zu korrumpieren scheint. Die meisten Menschen auf der Welt leben, um zu arbeiten und um Geld zu verdienen. Der technologische Fortschritt hat leider nicht – wie versprochen – dazu geführt, dass Menschen sich eine schöne Zeit machen können, während Maschinen den Rest übernehmen. Bedauerlicherweise leben wir nach wie vor in einem System, in dem wir unsere Existenz durch unsere Arbeit sichern müssen. 

Ein Paradigmenwechsel und/oder ein alternatives System sind noch nicht in Sicht. Das BGE (Bedingungsloses Grundeinkommen) wäre zwar ein realistischer Lösungsansatz, aber die Gesellschaft ist träge und Veränderungen lassen diesbezüglich bedauerlicherweise noch auf sich warten.

Als selbstbestimmter Mensch bleibt mir also lediglich die persönliche Wahl. Auch wenn die Wahloptionen vielleicht nicht die einfachsten und bequemsten sind. Dennoch muss ich mich fragen: Was will ich? 

Ich z.B. will mich immer weniger korrumpieren. Ich will nicht meine Freiheit und Zeit einbüßen, damit ich mir konsumorientierten Luxus leisten kann. Deshalb ziehe ich nach wie vor der (vermeintlich) „sicheren“ Angestelltenposition die „unsichere“, selbstständige Arbeit als Berufskünstlerin und Mentorin vor. Meine Wahl mag zwar für die meisten da draußen die unbequemere sein, doch ich sehe darin meine Selbstbestimmung und eigenen Werte. 

Der wahre Wert des Künstlerdaseins

Künstlerin zu sein bedeutet für mich eigene Entscheidungen zu treffen, Normen zu hinterfragen und den Status Quo infrage zu stellen. Nur weil alle anderen den geringsten Weg des Widerstandes gehen, bedeutet das nicht, dass ich das auch tun muss. 

Künstler*innen können inspirative Vorbilder, aber auch Störfaktoren und Gesellschaftskritiker*innen sein. Sie tragen zur Schaffung und Erhaltung der kulturellen Identität der Gesellschaft bei, stellen Dinge infrage und stoßen nötige Veränderungen an. Künstler*innen und kreative Akteur*innen sind wichtig für das gesellschaftliche Miteinander. 

Die meisten Künstler*innen nutzen ihre Werke, um auszudrücken, was sie über das Leben denken und um ein Statement über Gesellschaft und Kultur abzugeben. Auf diese Weise regen sie zum Diskurs an. Kunst kann neue Perspektiven eröffnen und Menschen dazu inspirieren, über die Welt und Gegebenheiten um sie herum nachzudenken. Zudem ist Kunst ein Kommunikationsmittel. Sie kann zur Verständigung dienen und Menschen unterschiedlicher Kulturen und Hintergründe zusammenbringen. Das fördert die Diversität in einem Land. Künstler*innen tragen durch ihre kreative Arbeit fortlaufend dazu beitragen, die Gesellschaft zu bereichern und das Leben ihrer Mitmenschen zu beeinflussen. 

Auch wenn das Künstlerdasein hart sein kann und man vielen Herausforderungen gegenüber steht, so hat man eine wertvolle und sinnstiftende Aufgabe. Künstler*innen sind wertvoll und keine Selbstverständlichkeit. 

Kunst & Kultur kann als Spiegelbild der Gesellschaft betrachtet werden. Eine florierende Kulturlandschaft kann für stabile Werte und eine positive gesamtgesellschaftliche Entwicklung sprechen. Im Gegenzug zeichnen Gesellschaften ohne fruchtbare Kulturszene häufig ein gegenteiliges Bild. 

Denk daran, wenn du dich das nächste Mal in Frage stellst. Als Künstler*in bist du wichtiger, als du glaubst! 

Diesen Artikel schrieb ich in leicht abgewandelter Form bereits heute vor einem Jahr – am 13. Mai 2023 – auf der Webseite www.maria-chiariello.de.

Artista | Maria Chiariello

Ich bin Berufskünstlerin und Mentorin. Hier schreibe ich über künstlerisch-kreatives Potenzial in beruflichen Kontexten. Ich freue mich, wenn ich inspirieren kann.

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